Mit vollem Rand

23.06. – 25.09.2023

Druckgrafik aus der Sammlung Jonathan Schneider

mit Arbeiten von Silvia Bächli, Peter Doig, Marlene Dumas, Rainer Fetting, 
Nan Goldin, R. B. Kitaj, Dora Maurer, Jonathan Meese, Sigmar Polke,
Daniel Richter, Gerhard Richter, Tal R & Kiki Smith

mit Textbeiträgen von Liv Bodet, Carolin Kralapp, Jenny Schäfer und Wolfgang Schröder

Seinem Wesen als vervielfältigtes Werk entsprechend, ist die Druckgrafik oft nur der kleine Bruder der “richtigen” modernen Kunst. In meinen Augen war und ist die Grafik, die Edition, das Multiple oder schlicht und einfach der Druck, gerade wegen des einfacheren, oftmals erschwinglicheren Zugangs zu zeitgenössischen wie kunsthistorischen Werken eines der wichtigsten Elemente, welches die bildende Kunst am Leben erhält.

Seit Gründung der kleinen gegenwart habe ich mit dem Gedanken gespielt, Werke aus meiner eigenen Sammlung auszustellen. Um den Einblick in meinen persönlichen Geschmack und meine Betrachtungsweise auf zeitgenössische Kunst zu ergänzen, habe ich, zusätzlich zur Auswahl von Grafiken, Textbeiträge aus eigener und fremder Feder zusammengetragen. Mein Dank gilt den Freundinnen und Freunden der Galerie, die diese Ausstellung mit ihren Beiträgen bereichern.

– Jonathan Schneider

Daniel Richter, The Crew (Tarifa), Farblithographie auf Büttenpapier, 2001,
Blatt 59 x 42,4 cm, Darstellung 37,3 x 32,2 cm,
rechts unter der Darstellung mit Bleistift handsigniert und datiert


Die Farblithographie nach dem bedeutenden Gemälde „Tarifa“ (2001) – ähnlich dem Motiv „Fatifa“ (2005), das mich in der Hamburger Kunsthalle immer wieder in seinen Bann zieht, transportiert für mich problemlos die hervorragende Qualität der Malerei von Richter in die Grafik. Nach meinem Dafürhalten steht es den großen Vorbildern, abgesehen natürlich vom Blattmaß, in nichts nach.

– Jonathan Schneider

Peter Doig, Boathouse, Farbradierung auf Büttenpapier, 2004,
Blatt 53,6 x 38,2 cm, mit Bleistift handsigniert und datiert
Nan Goldin, Lynelle in Japanese restaurant, N.Y.C., Photographie auf Cibachrome, 1988,
Blatt 40,6 x 30,5 cm, verso mit Filzstift signiert
Nan Goldin, Kee in bed, E. Hampton, N.Y., Photographie auf Cibachrome, 1988,
Blatt 30,5 x 40,5 cm, verso mit Filzstift signiert


Seit Jahrzehnten gewährt die US-amerikanische Künstlerin Nan Goldin (*1953) intime Einblicke in die Lebensrealität „der anderen“ – der Menschen, die ihr Leben jenseits von fest zugeschriebenen Geschlechterrollen und Heteronormativität führen. Ihre Bilder sind eine Einladung, durch das Schlüsselloch zu schauen, den Protagonist*innen durch die Linse der Fotografin nahezukommen und ihre Individualität und Schönheit zu erkennen. Zentrale Themen, die sich durch das Gesamtwerk von Nan Goldin ziehen sind Freundschaft und Gemeinschaft. Ihre Fotos bewahren persönliche Geschichten und Erinnerungen aus queeren Communities, die voller Nähe, Wärme und Wertschätzung stecken und gleichzeitig begleitet werden von traumatischen Erlebnissen, Drogensucht, Verlust und Schmerz. Sie beschützt die Geschichten der Menschen, denen sie am nächsten ist und zeigt, wie vielfältig Familie, Freundschaft und Leben aussehen kann. Persönliche Erfahrungen und Erinnerungen verschwimmen mit dem Medium der Fotografie, das all das Leben in den einzelnen Momenten konserviert und für die Ewigkeit festhält. Sie bleiben real und authentisch. Nan Goldins Ästhetik lebt davon, dass sie nicht voyeuristisch ist. Die Fotografin ist nicht Außenstehende, stille Beobachterin, sie ist ein Teil des Moments, den sie in seiner wahren Gestalt einzufangen versucht. Den Menschen mit der Kamera nahe zu sein, wird nur durch die gemeinsame persönliche Nähe möglich. Ihre Bildsprache, die Mimik und Gestik der Menschen, die Unmittelbarkeit des Moments transportieren dieses Gefühl von tiefer Emotionalität und Nähe auch visuell.

– Carolin Kralapp

Dora Maurer, diagonale (de)formation, Radierung auf Büttenpapier, 1978,
Blatt 69,3 x 49,7 cm, Darstellung 58,6 x 44,8 cm,
unter der Darstellung mit Bleistift handsigniert und betitelt


Dies ist das erste Blatt, welches ich mir mit etwa 20 Jahren selbst gekauft habe. Damals noch für sehr kleines Geld, und nur deswegen überhaupt für mich erschwinglich. Seitdem wurde Dóra Maurer (*1937 in Budapest), nach Jahrzehnten der künstlerischen Praxis und Ausstellungen primär in ihrer Heimat Ungarn, in Österreich und in Deutschland, als wichtige und wegweisende Avantgarde-Künstlerin anerkannt und ihre Werke haben den Weg in die wichtigsten Sammlungen der Welt gefunden. 

Konstruktivistische Arbeiten wie diese Grafik von 1978 sind Teil des Fundaments, auf dem das vielfältige Werk der Künstlerin gründet, das mich durchgehend, in der Beschäftigung mit dem Raum, der Bewegung, dem Spiel mit der Wahrnehmung und Verschiebungen in all diesen, überzeugt.

– Jonathan Schneider

Kiki Smith, bird, Graphikobjekt, Flachdruck mit Pergamin-Applikation auf Büttenpapier,
1998, Blatt 50 x 42 cm, Darstellung ca. 20,2 x 18,4 cm,
am unteren rechten Rand mit Bleistift handsigniert und datiert


Ich frage dich, soll ich ein Lied singen? Du nickst schwach. Vielleicht bilde ich es mir ein? Das Sterilwasser der Sauerstoffversorgung blubbert, du atmest laut und flach. Ich weiß auch nicht so recht, was zu tun ist. Du spürst meine Hand nicht mehr, ich hielte sie nur um mich selbst zu beruhigen. Es gibt nicht so viel zu sagen. Du schaust mich an, müde und dämmernd. Ich singe leise. Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß, hat ein‘ Zettel im Schnabel von der Mutter ein‘ Gruß, lieber Vogel flieg weiter, nimm ein‘ Brief mit und ein Kuss, denn ich kann dich nicht begleiten, weil ich hierbleiben muss. Diesen Vogel habe ich mir immer schon versucht vorzustellen. Der Vogel ist ja keine Amsel, keine Meise, keine Nachtigall, kein Wellensittich, kein Rotkehlchen, ist auch nicht Die Vögel sondern ist der eine Vogel, der geflogen kommt und wieder wegfliegt. Es ist ein Prototypvogel. Kiki Smiths „Bird“ ist vielleicht ebenso ein gegenseitiger Verweis von Signifikat und Signifikant. Der Titel bezeichnet die mentale Vorstellung, das Signifikat, die Zeichnung hingegen entspricht dem Signifikant, dem 𓅮. Dieser Vogel ist ein Abdruck, eine Fantasie, ein Symbol, er kommt und fliegt weg. Smiths Vogel passt in eine Hand, ist irgendwie fellig. Er ließe sich nicht fangen, er hätte Angst, aber er wäre schon auch wissend, mächtig und (ver)wesen.

– Jenny Schäfer

Sigmar Polke, Fernsehbild, vollformatiger Offsetdruck auf Karton,
1971, Blatt 64 x 84 cm, mit Bleistift handsigniert und datiert
Rainer Fetting, Taxi Blind Date, Farblithographie auf Büttenpapier,
1995, Blatt 57 x 75,8 cm, mit Bleistift handsigniert,
datiert, sowie nummeriert ‚35/60‘
Tal R, ohne Titel, Farblithographie auf Büttenpapier,
2006, Blatt 54,7 x 76,1 cm, mit Bleistift handmonogrammiert „T“
Jonathan Meese, Dietrich v. Bern in Drachenhaut,
1000 Augen des Dr. Mabusen Ihm befehligend im 1. Rittergeschlechtyrn
(Vampirritter aus Früchtebrei), vollformatiger Farbholzdruck in fünf Farben
auf Büttenpapier, 2005, Blatt 76 x 57,2 cm,
mit Bleistift handsigniert und datiert


Die Performance am 29.08.2006 zu Jonathan Meeses Werkschau “mama johnny” in den Hamburger Deichtorhallen trägt den Titel: 

FRÄULEIN OVERKILLI`S TANZBODEN, rattenscharf, klarmachen (DAS hermetische DUELL des NUGGET-JIM de Gong und DR. BILLY the KIDADDY am Eagle-TAIL von Sherif `Marshall-DIRN`(nah’ dem SPINNENTEAFOREST ‘MAMMUTUS 1912))

Die Ausstellung (30.4.-03.09.2006) besteht laut der TAZ aus “schwer halluzinatorischen Fantasien. Ein gigantischer, braun bemalter Kopf, dem Genitalien ums Kinn wachsen – so stellt sich Meese den Parzifal vor. Links am Eingang steht ein Sperrholzturm, auf den ein Stalinposter gepinnt ist und ein paar provozierende Wörter über Staat und Volk geschrieben wurden. Ein VW-Kübelwagen ist mit derangierten Schaufensterpuppen beladen, es gibt endlose Meter Leinwand mit Fratzen, direkt aus der Farbtube gequetscht. Das Zentrum bildet aber ein monumentaler Würfel aus schwarzer PVC-Folie, der als Auditorium mit einer Drehbühne dient. Aus angenehmer Distanz kann man von den Rängen herab chillen oder zuschauen, wie sich auf Video-Screens und in Dioramen das Meese-Universum entfaltet, vom Skelett im Käfig bis zum rottenen Styropornest, in dem eben noch ein Kettensägenmassaker stattgefunden haben könnte.”


Mit dem Katalog “Mama Johnny: Retrospektive” (Verlag der Buchhandlung Walther König) erscheint 2007 eine ausführliche Dokumentation. Auf der Doppelseite 196/197 sehen wir wie Jonathan Meese und Bernhard Schütz berauscht von Apfelmus eine Kuh durch die Ausstellung führen und sich von einer Peitschen-Artistin eine Zeitungsseite teilen lassen. Und wir sehen den jungen Jonathan Schneider (Pfeil) und können nur hoffen, dass er keinen Schaden davongetragen hat.

– Wolfgang Schröder

Gerhard Richter, Schweizer Alpen, vollformatiger Farbsiebdruck auf Karton,
1969, Blatt 69,5 x 69,5 cm, rechts unten mit Bleistift handsigniert
R.B. Kitaj, Ctric News Topi, Kombinationsdruck aus Siebdruck und
Offset auf Büttenkarton, 1968, Blatt 104,5 x 69,8 cm,
Darstellung 98,8 x 62,3 cm, am unteren Rand mit Bleistift handsigniert,
sowie nummeriert ‚50/70‘
Marlene Dumas, A long silence, Lithographie mit getöntem Fond auf Büttenpapier,
1989, Blatt 50,7 x 45 cm, mit Bleistift handsigniert und datiert


In der Bar heute Abend fragt mich jemand, wie alt ich bin. Er beginnt, Schätzungen abzugeben: erst neunundzwanzig, dann – Himmelarsch! – dreiunddreißig. Wie unangenehm. Weil ich gerade erst xundzwanzig geworden bin und plötzlich meinen (vom Patriarchat diktierten) jugendlichen Wert als Objekt „Frau“ schwinden sehe – ich, die bisher immer jung war. In diesem Spiel hatte ich von Beginn an keine Chance auf einen Sieg. Bleibt mir nur, die Niederlage mit (reichlich angekratzter) Würde nach Hause zu tragen. Dort stelle ich mich der bedauernswerten Tatsache, dass außer Benjamin Button noch nie jemand jünger geworden ist. Trotz kommt auf. Na und? Scheiße, ich bin inzwischen vielleicht alt1, ich gehe auf die dreißig zu und dann… ABER2: Ich habe auch jedes Recht, alt zu sein. Altsein bedeutet (wenn schon sonst nichts Gutes) Erfahrung. Davon (von den schlechten) habe ich – gemessen an meinen Erfahrungen müsste ich sogar noch viel älter sein. Dreiunddreißig oder so.

Eine Ausstellung der südafrikanischen Künstlerin Marlene Dumas in der Fondation Beyeler 2015 trug den Titel The Image as Burden, was ich gern wortwörtlich mit der Wirkung ihres Werkes auf die Betrachtenden verknüpfe. Ich lernte ihr Werk im vergangenen Jahr auf einer Kurzreise anlässlich der 59. Biennale nach Italien kennen, wo die Ausstellung Marlene Dumas. open-end im Palazzo Grassi gezeigt wurde. Kunst ist nicht das, was man sieht – sondern das, was man fühlt, wenn man es sieht3

Ich lernte dort, wie sich die Betrachtung der von ihren mit traditionellen Techniken auf Leinwand und Papier beschworenen Figuren, Portraits, Texten, Notizen, Gedanken und noch mehr Gesichtern, Wänden und Schaukästen gefüllt mit emotional geladenen Gesichtern, und einer filmischen Arbeit (die ich zugegebenermaßen nicht vollständig ertragen habe), anfühlt. Ein psychologischer Ansturm. “Only those who know loss are able to really admire Byron”4

Beeindruckend auf jeden Fall, wird sie doch nicht umsonst als eine der einflussreichsten und interessantesten Künstlerinnen der Gegenwart gehandelt. Ich stelle mir vor, dass selbst solche Besucherinnen und Besucher, die nur zufällig im vergangenen Jahr im venezianischen Palazzo Zuflucht vor einem Regenschauer suchten und dann, die erzwungene Pause zu überbrücken hoffend, über die Galerien zum überdachten Innenhof und durch die Räume streiften, bemerkt haben müssen, dass sie sich in Gegenwart von etwas Besonderem befinden. Haben sie dasselbe gesehen, vielleicht ein paar von Ihnen etwas Ähnliches gefühlt wie ich? Denen möchte ich sagen: Nun ja. Wir haben es geschafft. Wir haben den Sturm überstanden, nur ein kleiner Riss im Focksegel, gerissene Takelage, eine abgeknickte (glücklicherweise unbesegelte) Rahe und ein oder zwei abhandengekommene Fender zu verzeichnen. Wir fahren weiter, mit mehr Erfahrung, um weitere Jahre gealtert. Jetzt sind wir alle schon dreiunddreißig.

1 Anmerkung: Die Verhältnismäßigkeit lasse ich meiner egozentrischen Natur gemäß völlig außer Acht.
2 [hier trifft mich eine weitere selbstgerechte Erkenntnis]
3 frei nach Duchamp „It’s not what you see that is art”
4 zitiert nach Anne Elliot, der Protagonistin in der unsäglichen Netflix-Neuverfilmung von Jane Austens Persuasion aus 2022, die ich schon so oft gesehen habe, dass ich mitsprechen kann

– Liv Bodet

Silvia Bächli, ohne Titel, Lithographie auf getöntem Fond auf Büttenpapier,
2003, Blatt 53,5 x 39,2 cm, Darstellung 31,2 x 22,5 cm,
mit Bleistift handmonogrammiert und datiert


Irgendwie bewegt und windig dieses Gewächs, surreal nach oben schwebende Trauerweide, überschwemmt, gegen die Schwerkraft, ganz stabil, vielleicht sogar gummiartig, porös, Vulkanisat, ich rieche Teer, fühle aber auch die Reste von einfacher schwarzer Wasserfarbe, die an der Hand getrocknet ist, riecht auch nach Kindergarten und Malstunde. Das Papier wellt sich vielleicht, die fünf Fliegenden bewegen sich gegen einen Widerstand. Bächli hat sich Bild für Bild auseinandergesetzt mit unsichtbarer Atmosphäre, mit Druck, mit Gegendruck, widerspenstig. Was ich sehe, ist Bild Nummer 309 C3 aus der Griffelkunst, ein Ausschnitt aus diesem Prozess. Was ich nicht sehe: ihre tieferen Auseinandersetzungen. Bereits 1987 steht sie in einem Austausch mit Kollegin Miriam Cahn. Cahn schreibt in einem Brief bzgl. einer Ausstellung in der Kunsthalle Basel, Bächlis „Bequemlichkeit“ in einer Ausstellung mache sie fast schon zornig („Das zornige Schreiben“, Miriam Cahn, Hatje Cantz, 2019, S.50.). Sie beschreibt „andeutungen sind in den schatten hinter den sachen auf deinen grossen bildern, und gerade diese andeutungen machen mich umso zorniger, weil sie auf eine energie bei dir hinweisen, die du einfach nicht getraust zu gebrauchen – warum eigentlich? was hast du denn zu verlieren?“ (ebd. S. 51.) Ich liebe Cahns Briefe und empfinde grade diesen Vorwurf in Bezug auf dieses Bild von 2003 eher als Betonung einer Stärke Bächlis. Es ist ziemlich leichtsinnig von mir, den Text Cahns zu zitieren ohne zu wissen, auf welche Arbeit sie sich bezieht und doch gefällt mir diese Übertragung auf dieses kleine Druckstück. In ihrem Antwortbrief erklärt Bächli ihre Gedanken zu ihrer uns nun unbekannten Hängung 1987: „Das Fast-Berühren-Abstützen-Aufhalten-Anziehen-Darüberhinausschauen-Zurückstossen. Anlocken, verbinden, loslassen, beschleunigen; bremsen, drängeln, stemmen, wiegeln, ringeln. Und der/die Betrachterin mittendrin, hineingezogen in die unruhigen Wellenbewegungen.“ (ebd. S. 52.) scheint mir mit der unbetitelten Lithographie von 2003 einmal mehr manifestiert worden. 

– Jenny Schäfer